19 Jun
2014

Diskriminierung wegen fehlenden Präventionsverfahrens nach § 84 Abs. 1 SGB IX?

Das LAG Baden-Württemberg hat am 17.3.2014 (1 Sa 23/13) darüber entschieden, ob eine schwerbehinderte Arbeitnehmerin, der innerhalb der Probezeit gekündigt wurde, einen Anspruch auf Schmerzensgeld nach § 15 Abs. 2 AGG hat, weil kein Präventionsverfahren nach § 84 Abs. 1 SGB IX durchgeführt wurde. Das LAG hat den Anspruch der Arbeitnehmerin abgelehnt, wie zuvor auch schon das Arbeitsgericht. Die Revision zum Bundesarbeitsgericht wurde zugelassen.

Eine 1954 geborene Arbeitnehmerin (Diplomökonomin) zum 1.10.2012 war beim Land Baden-Württemberg  als Leiterin Qualitätsmanagement und Controlling eingestellt worden. Im Arbeitsvertrag wurde eine Probezeit von 6 Monaten vereinbart. Die Frau ist zu 50 % schwerbehindert. Sie wurde eingearbeitet und bekam verschiedene Schulungen, die sie erfolgreich beendete. Schon bald merkte der Vorgesetzte, dass die Frau den Anforderungen der Stelle nicht gewachsen war und trug sich mit dem Gedanken der Kündigung. Er ließ einen Eignungsbericht anfertigen, der verschiedene fachliche Defizite zu Tage förderte und hörte schließlich die Schwerbehindertenvertretung und den Personalrat zur Kündigung an. Letzterer widersprach der Kündigung. Der Arbeitgeber kündigte zum Ablauf der Probezeit. Die Arbeitnehmerin klagte auf eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG und wollte 3 Gehälter Schmerzensgeld (etwas über 11.000 Euro). Sie machte geltend, dass der Arbeitgeber sie als Behinderte diskriminiert habe, weil er vor der Kündigung nicht versucht habe, sie entsprechend ihrer Behinderung zu beschäftigen. Dies hätte ein Präventionsverfahren nach § 84 Abs. 1 SGB IX ermöglicht.

In § 84 Abs. 1 SGB IX heißt es:

„Der Arbeitgeber schaltet bei Eintreten von personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Schwierigkeiten im Arbeits- oder sonstigen Beschäftigungsverhältnis, die zur Gefährdung dieses Verhältnisses führen können, möglichst frühzeitig die Schwerbehindertenvertretung und die in § 93 genannten Vertretungen sowie das Integrationsamt ein, um mit ihnen alle Möglichkeiten und alle zur Verfügung stehenden Hilfen zur Beratung und mögliche finanzielle Leistungen zu erörtern, mit denen die Schwierigkeiten beseitigt werden können und das Arbeits- oder sonstige Beschäftigungsverhältnis möglichst dauerhaft fortgesetzt werden kann.“

Der Arbeitgeber trug vor, dass er innerhalb der Probezeit, die mit der Wartezeit für den besonderen Kündigungsschutz von schwerbehinderten Arbeitnehmern identisch war, ohne Vorliegen eines Grunde kündigen dürfe. Vor Ablauf der sechsmonatigen Wartezeit nach dem SGB IX müsse der Arbeitgeber auch kein Präventionsverfahren durchführen. Wenn es diese Pflicht gäbe, dann würden schwerbehinderte Menschen in der Probezeit besser gestellt als nicht behinderte Menschen und das hat der Gesetzgeber nicht vorgesehen, denn er hat ja gerade die sechsmonatige Wartezeit vor den Sonderkündigungsschutz geschaltet, weil man auch schwerbehinderte Menschen frei erproben können sollte.

Das LAG hat dem Arbeitgeber Recht gegeben. Zwar hätte mit Hilfe des Präventionsverfahrens durchaus ermittelt werden können, ob die Arbeitnehmerin mit bestimmter Unterstützung doch zu einer Leistung fähig gewesen wäre. Dieser Chancenvorteil des Präventionsverfahrens sei der Arbeitnehmerin nicht gewährt worden und darin liege eine Diskriminierung. ABER: Der Arbeitgeber hatte innerhalb der Wartezeit nicht die Pflicht zur Durchführung des Präventionsverfahrens. Das hat das Bundesarbeitsgericht schon in Kündigungsschutzstreitigkeiten entschieden aber noch nicht für Entschädigungsstreitigkeiten. Das LAG meinte dazu, dass man zwar die Kündigungsrechtsstreite und die Entschädigungsrechtsstreite nicht in einen Topf werfen dürfe. ABER: Der Gesetzgeber hat die Wartezeit von 6 Monaten eingeräumt. In dieser Zeit gilt nicht das Kündigungsschutzgesetz und auch nicht der Schwerbehinderten-Schutz. Ein richtig durchgeführtes Präventionsverfahren braucht Zeit. Diese Zeit hat der Arbeitgeber aber nicht, wenn er innerhalb der Probezeit kündigen will. Er muss also das Präventionsverfahren im Schnelldurchgang machen und setzt sich dem Vorwurf aus, es nur pro forma gemacht zu haben oder er macht es richtig und kann dann nicht mehr privilegiert kündigen, weil die 6 Monate schon verstrichen sind. Aus diesem Gedanken heraus entstand der nachvollziehbare Schluss: Kein Anspruch auf Präventionsverfahren in der Wartezeit. Daher auch keine Diskriminierung wegen der Behinderung. Andere Anhaltspunkte für eine Diskriminierung hat die Klägerin nicht geliefert. Daher war die Klage abzuweisen.

Es bleibt abzuwarten, ob in dem Fall Revision eingelegt wird. Arbeitgebern ist im Moment noch zur Vorsicht zu raten.

von: Dr. Sandra Flämig | Kategorie: Aktuelles Arbeitsrecht Blog

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