7 Jan
2013

Weniger Abfindung bei nahender Rente? EuGH-Urteil vom 6.12.2012

Verstößt es gegen geltendes europäisches und nationales Antidiskriminierungsrecht, wenn ein Sozialplan folgende Regelung enthält:

„Bei Mitarbeitern, die älter als 54 Jahre sind und betriebsbedingt gekündigt werden oder einvernehmlich das Arbeitsverhältnis beenden, wird die gemäß § 6 Abs. 1 Punkt 1.1 errechnete Abfindung folgender Berechnung gegenübergestellt:

Monate bis zum frühestmöglichen Renteneintritt x 0,85 x Bruttomonatsentgelt [im Folgenden: Sonderformel]

Sollte die [Standardformel-Abfindung] größer sein als die [Sonderformel-Abfindung], so kommt die geringere Summe zur Auszahlung. Diese geringere Summe darf jedoch die Hälfte der [Standardformel-Abfindung] nicht unterschreiten.

Ist das Ergebnis [der Sonderformel] gleich null, kommt die Hälfte der [Standardformel-Abfindung] zur Auszahlung“ Auszug aus dem Tatbestand des Urteils des EuGH vom 6.12.2012 c 152/11

Mit anderen Worten: Wer älter als 54 ist, bekommt ggf. deutlich weniger Abfindung als ihm nach der regulären Berechnung des genannten Sozialplanes wegen Betriebszugehörigkeit und Lebensalter zustehen würde. Wer aufgrund von Schwerbehinderung früher als andere in Rente gehen kann, bekommt noch weniger.

Es liegt also ganz klar eine Ungleichbehandlung Älterer ggü. Jüngeren und Behinderter ggü. nicht Behinderten vor. Frage also: Ist das von den europäischen und nationalen Vorschriften gedeckt?

Geklagt hatte ein  damals 58-jähriger Mitarbeiter, der zudem noch einen Grad der Behinderung von 50 hatte und somit als schwerbehinderter Mensch galt. Er hätte mit 65 in Regelaltersrente gehen können. Aufgrund seiner Behinderung war jedoch ein Renteneintritt schon mit 60 Jahren möglich. Er bekam von seinem Arbeitgeber rund 300.000 Euro Abfindung. Nach der Standardformel hätten ihm rund 600.000 Euro zugestanden. Wenn man den frühestmöglichen Renteneintritt zugrunde gelegt hätte, wären es nur rund 200.000 Euro gewesen. Aufgrund der Regelung im Sozialplan zahlte der Arbeitgeber daher die garantierte Summe: Hälfte der Standardabfindung.

Der Arbeitnehmer war der Ansicht, der Sozialplan verstoße gegen europäisches und nationales Recht. Ihm stünden daher die rund 600.000 Euro zu. Er werde aufgrund seines Alters und aufgrund seiner Behinderung benachteiligt. Er hatte vor dem Arbeitsgericht München geklagte. Das hat dem EuGH die Frage vorgelegt, ob § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG gegen  RL 2000/78/EG und damit gegen höherrangiges europäisches Recht verstoße. Wäre das der Fall gewesen, dann hätte das Gericht dem klagenden Arbeitnehmer die restlichen rund 300.000 Euro Abfindung zugesprochen, da es für die unterschiedliche Behandlung von Menschen höheren Alters im Vergleich zu Menschen niedrigeren Alters keine Rechtfertigung gegeben hätte.

§ 10  AGG lautet (auszugsweise) wie folgt:

„Ungeachtet des § 8 ist eine unterschiedliche Behandlung wegen des Alters auch zulässig, wenn sie objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist. Die Mittel zur Erreichung dieses Ziels müssen angemessen und erforderlich sein. Derartige unterschiedliche Behandlungen können insbesondere Folgendes einschließen: 

…..

6. Differenzierungen von Leistungen in Sozialplänen im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes, wenn die Parteien eine nach Alter oder Betriebszugehörigkeit gestaffelte Abfindungsregelung geschaffen haben, in der die wesentlich vom Alter abhängenden Chancen auf dem Arbeitsmarkt durch eine verhältnismäßig starke Betonung des Lebensalters erkennbar berücksichtigt worden sind, oder Beschäftigte von den Leistungen des Sozialplans ausgeschlossen haben, die wirtschaftlich abgesichert sind, weil sie, gegebenenfalls nach Bezug von Arbeitslosengeld, rentenberechtigt sind.“

Art. 2 Abs. 2 RL 2000/78/EG lautet wie folgt:

„Im Sinne des Absatzes 1

  • a)liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Artikel 1 genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde;
  • b)liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung, einer bestimmten Behinderung, eines bestimmten Alters oder mit einer bestimmten sexuellen Ausrichtung gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können, es sei denn:
    • i)diese Vorschriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt, und die Mittel sind zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich, oder
    • ii)der Arbeitgeber oder jede Person oder Organisation, auf die diese Richtlinie Anwendung findet, ist im Falle von Personen mit einer bestimmten Behinderung aufgrund des einzelstaatlichen Rechts verpflichtet, geeignete Maßnahmen entsprechend den in Artikel 5 enthaltenen Grundsätzen vorzusehen, um die sich durch diese Vorschrift, dieses Kriterium oder dieses Verfahren ergebenden Nachteile zu beseitigen.“

 Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78/EG lautet wie folgt:

„Ungeachtet des Artikels 2 Absatz 2 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass Ungleichbehandlungen wegen des Alters keine Diskriminierung darstellen, sofern sie objektiv und angemessen sind und im Rahmen des nationalen Rechts durch ein legitimes Ziel, worunter insbesondere rechtmäßige Ziele aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt und berufliche Bildung zu verstehen sind, gerechtfertigt sind und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind.

Derartige Ungleichbehandlungen können insbesondere Folgendes einschließen:

  • a)die Festlegung besonderer Bedingungen für den Zugang zur Beschäftigung und zur beruflichen Bildung sowie besonderer Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, einschließlich der Bedingungen für Entlassung und Entlohnung, um die berufliche Eingliederung von Jugendlichen, älteren Arbeitnehmern und Personen mit Fürsorgepflichten zu fördern oder ihren Schutz sicherzustellen;
  • b)die Festlegung von Mindestanforderungen an das Alter, die Berufserfahrung oder das Dienstalter für den Zugang zur Beschäftigung oder für bestimmte mit der Beschäftigung verbundene Vorteile;
  • c)die Festsetzung eines Höchstalters für die Einstellung aufgrund der spezifischen Ausbildungsanforderungen eines bestimmten Arbeitsplatzes oder aufgrund der Notwendigkeit einer angemessenen Beschäftigungszeit vor dem Eintritt in den Ruhestand.“

Die Frage ist also, ob es für die Ungleichbehandlung ein legitimes Ziel gibt. Sozialplanabfindungen sollen zum einen Menschen für einen Überbrückungszeitraum absichern. Sie sollen aber auch berücksichtigen, dass die bestehenden Arbeitsplätze erhalten werden können und das Unternehmen nicht durch zu große Zahlungsverpflichtungen ggü. den gekündigten Mitarbeitern in seinem Bestand gefährdet ist. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass Menschen, die sich nah der Rente befinden, keine so großen Risiken mehr zu tragen haben. Auch wenn eine lange Betriebszugehörigkeit zu einer hohen Abfindung führen würde, soll daher eine Kappung bei Menschen mit geringem finanziellen Risiko möglich sein. Das hatte der deutsche Gesetzgeber bei der Schaffung des § 10 Satz 3 Nr. 6 AGG im Blick. Der EuGH  hat daher auch die Regelung, die eine geringere Abfindung für rentennahe Arbeitnehmer vorsieht, für zulässig und mit europäischen Recht vereinbar gehalten.

Der in Frage stehende Sozialplan hatte aber noch die weitere Regelung, dass bis zum frühestmöglichen Renteneintritt gerechnet wurde. Das führte dazu, dass der behinderte Kläger weniger Abfindung bekam als ein gleichaltriger nicht behinderter Arbeitnehmer mit ansonsten gleichen Ausgangsvoraussetzungen.

Der EuGH ließ die Argumentation nicht gelten, dass der Kläger ja früher in Rente gehen könne und daher weniger Geld brauche. Der EuGH rügte an dieser Ansicht, dass die Rechtfertigung „früherer Rentenmöglichkeit“ etwas mit der Behinderung zu tun habe und schon allein deshalb nicht als Rechtfertigungsgrund dienen könne. Ein Rechtfertigungsgrund muss objektive Faktoren enthalten und keine Faktoren, die etwas mit der Behinderung zu tun haben. Somit wird der klagende Arbeitnehmer wohl doch noch zu seiner höheren Abfindung kommen. In Summe 570.000 Euro.

Fazit: Bei Sozialplanabfindungen lohnt sich ein genauer Blick in die Regelung der Abfindung für rentennahe Mitarbeiter. Kommt das Kriterium der Behinderung ins Spiel, könnte es nach diesem Urteil mehr Geld geben, als bislang angenommen.

von: Dr. Sandra Flämig | Kategorie: Aktuelles Arbeitsrecht Blog

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